Das Ziel ist so ambitioniert wie politisch unbestritten. Allerdings sollte sich das Wirtschaftsministerium genau anschauen, wofür es das Steuergeld ausgibt. Kommunale Online-Marktplätze galten vor ein paar Jahren schon als „innovativer Königsweg“. In der Realität aber sind alle Unternehmungen mehr oder weniger krachend gescheitert. Ein Beispiel: Der lokale Online-Marktplatz Mainlokalshop, in dem sich immerhin 112 Einzelhändler zusammengetan haben, hat trotz Corona von Ende März 2020 bis Ende August 2020 einen Gesamtumsatz von 45.000 Euro verzeichnet. Das sind 44,64 Euro Umsatz pro Monat pro Händler (Quelle: Internet World Business, die Fachzeitschrift für Onlinebusiness). Es ist nur ein Beispiel für viele dieser Versuche, nirgendwo gibt es einen lokalen Online-Marktplatz, der wirtschaftlich funktioniert.
Woran liegt das? Erstens daran, dass Onlinemarketing nicht nur Spezialwissen benötigt, sondern vor allem Geld. Ein lokaler Einzugsbereich ist jedoch viel zu klein, um den Umsatz zu generieren, der diese digitalen Marketingkosten dauerhaft refinanzieren würde. Zweitens sind die allermeisten Einzelhändler schon zeitlich nicht in der Lage, ihre Angebote manuell in ein irgendwie gebautes Shoppingportal einzutippen. Hinzu kommt, dass es ohne gute Bilder und Produktbeschreibungen, ohne Kundenrezensionen und ein professionell gepflegtes CRM-System im Onlineshopping heutzutage nicht (mehr) geht. Aus diesem Grund werden lokale Marktplätze von Insidern als „steuerfinanzierte Strohfeuer“ beschrieben.
Große erprobte Systeme bieten mehr Vorteile
Die Alternative hierzu sind die technischen Optionen, die die großen Plattformen (von Amazon bis Zalando) inzwischen für Händler entwickelt haben. Im „Connected-Retail-Portal“ von Zalando beispielsweise legt der Einzelhändler lediglich fest, welche Artikel er zu welchem Preis anbieten will. Alles andere, von der Bild- und Textbeschaffung, von der Produkteinpflege, dem Marketing über den Kundenservice bis zur Zahlungsabwicklung, übernimmt die Plattform. Und die erreicht über ihre „Marketingmaschine“ das Millionenfache eines lokalen Marktplatzes. Warum also versuchen, ein kleines lokales Rädchen neu zu erfinden?
Können die großen Plattformen zum Rettungsanker für den stationären Einzelhandel werden? Nein. Sie können allenfalls im Einzelfall zum relevanten Standbein werden, aber für viele Branchen sind sie kaum eine Option. Lokale Online-Marktplätze allerdings auch nicht.
Digitalstrategie: Investieren mit professionellem Konzept
Ein anderer Ansatz scheint strategisch sinnvoller: Schon immer gilt die Einsicht, dass sich jeder (nicht nur der Einzelhandel) über seine Stärken bewusst werden und Alleinstellungsmerkmale erkennen oder aufbauen muss. Nur durch den „entscheidenden Unterschied“ entsteht eine Art „befristete Existenzgarantie“. Die Digitalisierung hat das Einkaufsverhalten verändert und somit muss jeder Händler seine individuelle Digitalstrategie finden. Geschäftsmodelle, die lediglich darauf vertrauen, dass sie früher funktioniert haben, werden diesen Prozess nicht überstehen.
Ein Ansatz ist zum Beispiel diese Überlegung: Unschlagbar gegenüber jedem Onlineanbieter ist der stationäre Handel in mindestens 3 Punkten: Erstens ist es die sofortige Verfügbarkeit der Ware. Zweitens kann der Einzelhändler seine Kunden individuell beraten (Produktauswahl und Service) und drittens kann er die Bindung zum Kunden auf einer sehr persönlicher Ebene aufbauen, vorausgesetzt, er möchte seine Kunden kennenlernen. Meiner Beobachtung stehen sich an dieser Stelle viele Einzelhändler selbst im Weg. Welcher Kunde fühlt sich zum Beispiel nicht „bestens betreut und aufgehoben“, wenn der Händler nach Monaten noch sagen (also nachschauen) kann, was beim letzten Einkauf gewählt wurde? Oder wenn er über die neu eingetroffenen Produkte per Newsletter informiert wird?
Welche Lieblingsmarken, Pflegeprodukte oder Kundengewohnheiten machen diesen Kunden aus? Kennt sie der Händler, hat er vielfache Möglichkeiten für passende Verkaufsaktionen. Nicht zuletzt gehört auch der individuelle Rabatt zu einem solchen „Loyalty Program“. Generell gilt also: wer die Vorgeschichte seines Kunden kennt, schafft eine persönliche Bindung, die kein Onlinesystem je erreichen kann. Aber welcher Einzelhändler führt eine Kundendatei, in die er Präferenzen oder das Kaufdatum einträgt, mit der sich die Kunden aktiv an einen Servicetermin erinnern lassen? Das sind allesamt keine neuen Ideen, und sie verursachen zugegebenermaßen Zusatzaufwand. Sie verlangen auch etwas „Technik“. Aber es sind dennoch vergleichsweise kleine Umstellungen, die längst erfolgreich erprobt sind - aber die wenigstens Einzelhändler setzen sie um.
Mit den kleinen Umstellungen beginnen
Die Digitalisierung bringt auch neue Möglichkeiten und Chancen für den Handel. Allerdings sind Features wie die Shopping App, VR-Brillen, Virtual Fitting, Beacons oder digitale Umkleiden nichts für kleine Einzelkämpfer. Sie sind schlicht zu teuer. Dies gilt noch mehr (zumindest auf absehbare Zeit) für Produktpräsentationen mit Augmented Reality (AR) oder Virtual Reality (VR). Diese heute schon verfügbaren Technologien können sich nur die ganz großen Unternehmen leisten.
Die meisten Kunden brauchen solche Einkaufshilfen (noch) nicht. Knapp die Hälfte aller Kunden würde schon eine WLAN-Verbindung im Ladengeschäft helfen, heißt es in einer Untersuchung des Branchenverbands Bitcom im Jahr 2020. Etwa jeder dritte Kunde eines Ladengeschäfts wünscht sich eine digitale Echtzeit-Info über die Verfügbarkeit eines gesuchten Artikels. Ein großes Potential stellen auch die 31% der Kunden dar, die sich über Handynachrichten von individuellen Sonderangeboten animieren lassen würden. Diesen Service können auch kleinere Händler durchaus „stemmen“.
Der Einzelhandel muss die Chancen der Digitalisierung erkennen und sie umsetzen. Doch vor einer kostspieligen Investition sollte eine professionelle Strategie entwickelt werden.
Michael Jacobi
Vorsitzender der MIT im Kreis Ludwigsburg
Der Artikel gibt die persönlichen Gedanken des Autors wieder.
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