Tobias Vogt: „In meiner Schule galt die Lehre nicht viel“

Datum des Artikels 18.05.2022

„Wie kann sich ein so guter Schüler gegen ein Studium entscheiden?“ Ich höre die Worte meines damaligen Lehrers noch in der Abschlussklasse meiner Schule. Gleich mehrfach wurde ich von ihm vor der gesamten Klasse unter Druck gesetzt. Sogar von der Rektorin wurde ich einbestellt, um mich für meine erste Berufsentscheidung zu rechtfertigen.

Acht von neun meiner Kumpels sind mit ihrem Schulabschluss zum Studium gegangen. Diesen Weg habe ich später auch gesucht, aber mir war von Anfang an wichtig, zuerst die Grundlagen in der Praxis zu legen. Deshalb habe ich eine Ausbildung begonnen. Gegen den Willen meiner Schule.

Allzu häufig vermitteln Elternhaus und Schulsystem den Eindruck, dass man ohne Studium nicht viel gilt. Dass man beruflich, gesellschaftlich und finanziell mit einer Beruflichen Ausbildung abgehängt sei. Welch ein Blödsinn.

Wir haben wahrscheinlich das durchlässigste Bildungssystem der Welt. Egal wo und wie man die Schulzeit beginnt, stehen im weiteren Leben nahezu alle Optionen offen.

Dass die Fixierung aufs Studieren für viele Schulabgänger in die falsche Richtung führt, zeigt die Studienabbruchquote, die bei 27 Prozent (Bezugsjahr 2018) in den Bachelorstudiengängen liegt. Oft kommen die Studenten (Studierenden?)  mit falschen Vorstellungen an die Fachhochschulen und Universitäten – und scheitern in den theoriegeladenen Kursen.

Berufliche Ausbildung: Jobgarantie und Karrierechance

Aber auch, wer sein Studium erfolgreich beendet, hat entgegen der allgemein verbreiteten Meinung keine Jobgarantie. Und vor allem keine Garantie, auf einen wirklich gut bezahlten Job. Seit 1971 ist der Akademikeranteil in der erwerbsfähigen Altersklasse in Deutschland von 2,8% auf 15,8% gestiegen. Jährlich erwerben rund eine halbe Million Personen in Deutschland einen Hochschulabschluss. Ihr durchschnittliches Einstiegsgehalt liegt bei 3.780 Euro brutto pro Monat. Wenn sie ihren ersten Job antreten, haben Fachkräfte ohne Studium bereits mindestens 4 Jahre Geld verdient und sind auf dem Weg zum Durchschnittsgehalt von 4.100 Euro brutto. Genau so sieht auch die Realität in unserem Familienbetrieb und sehr vielen anderen ähnlichen Unternehmen aus.

Immer mehr Ausbildungsplätze in Baden-Württemberg können Jahr für Jahr nicht besetzt werden. Zum 30. September 2021 waren mehr als 10.000 Ausbildungsstellen unbesetzt. Gegenüber dem Vorjahr bedeutet dies eine Zunahme von 24,7%. Irgendwelche Anzeichen dafür, dass sich diese Situation grundsätzlich ändert, sieht die Bundesanstalt für Arbeit nicht. Die März-Zahlen 2022 deuten vielmehr darauf hin, dass sich die Bewerberzahl im kommenden Ausbildungsjahr nochmals verringern wird.

Der Mittelstand hat zunehmend Probleme, seine Fachkräfte für morgen zu finden. Das Wirtschaftsministerium in Stuttgart versucht, das Angebot für die Ausbildung zu stärken: über Zuschüsse für ausbildende Kleinstbetriebe, über Ausbildungsscouts, die zur Aufgabe haben, nicht mehr ausbildende KMU zurückzugewinnen und mit doppelten Zuschüssen für die Verbundausbildung. Aber ist das überhaupt der richtige Ansatzpunkt?

Ganz viele Ausbildungsbetriebe (nicht nur im Handwerk) scheitern noch daran, die Vorzüge ihres Berufsbilds attraktiv zu vermitteln. Oft beschränken sich die Suchbemühungen in der Digitalwelt darauf, einen offenen Ausbildungsplatz auf der eigenen Website zu veröffentlichen. Das reicht nicht.

Als wichtigsten Punkt sehe ich, dass wir in den Schulen beginnen müssen. Solange Lehrerinnen und Lehrer die berufliche Ausbildung schlechtreden und solange bei vielen Eltern die Lehrstelle als Berufsweg zweiter Klasse gilt, wird sich wenig ändern.